Altrussische Neumen
Krjuki, krjukovaja notacija, znamennaja notacija
Stichworte: Altrussischer Kirchengesang, Kirchenmusik, Notation, Schriftsysteme, Neumen, Neumenschrift, semantische Notation, Chomonie, Paläographie
Einer der Grundziige der orthodoxen Kirchenmusik ist ihr rein vokaler Charakter. Die liturgischen Gesänge spielen auch im Ritus der russisch-orthodoxen Kirche eine zentrale Rolle. Der Kirchengesang war und ist, wie von Gardner betont (vgl. 1976, 37f.) ein der Liturgie immanentes, nicht lediglich ein fakultatives Element des Gottesdienstes.
Das Repertoire an Gesängen der russisch-orthodoxen Kirche ist außerordentlich reichhaltig. Die altrussischen Kirchengesänge gehen im Hinblick auf die Texte und die musikalische Notation auf byzantinische Vorbilder zurück. Die entsprechenden liturgischen Bücher wurden ins Kirchenslavische übersetzt. Die Gesangbücher machen einen erheblichen Teil des überlieferten altkirchenslavisch-ostslavischen Schrifttums aus. Aus dem 11. bis 13 Jahrhundert sind ca. 30 Handschriften mit altrussischer linienloser Neumenschrift erhalten (vgl. Floros, 1970, 10ff.). Metallov führt in seinem paläographischen Atlas (1912, 11 f.; vgl. auch 1986, 24ff.) 26 namentlich an.
Zur offiziellen Notation der russisch-orthodoxen Kirchengesänge, die vom 11. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts einstimmig waren, wurde die sogenannte 'znamennaja notacija'. Der Begriff sematische Notation ist auch in der westlichen Fachliteratur frequent (vgl. Floros 1970, 15). Eine weitere Möglichkeit zur Bezeichnung der altrussischen Neumenschrift stellt 'krjukovaja notacija' oder 'krjuki' dar. Sie ist an der graphischen Form eines der Grundzeichen orientiert, des 'krjuk' (t~~).
Die unter der Herrschaft des Zaren Aleksej Michailovic durchgeführten Reformen im kirchlich-liturgischen Bereich blieben nicht ohne Auswirkung auf die Kirchenmusik. Es wurde die Einführung der Mehrstimmigkeit und der sog. Quadratnotation, des kievskoe znamja gefördert. In dieser Notation wurden die Gesangbücher im Jahr 1772 gedruckt, während die monophonen Gesänge in linienloser Neumenschrift in Vergessenheit gerieten.
Einen Überblick über die Entwicklung der sematischen Notation im 11. - 17. Jahrhundert geben Smolenskij (J. v. Gardner (Hg.), 1976) und Metallov (1912; 1986).
Die Texte der altrussischen Kirchengesänge erfuhren in ihrer Überlieferungsgeschichte einige besondes auffällige Veränderungen. Da über jeder Silbe der feststehenden Melodieformen mindestens eine Neume stand, entstand durch den Jerwandel das Problem, daß nunmehr eine bestimmte Anzahl von Silben gefehlt hätte, hätte man in diesen Handschriften die Artikulation bzw. Nichtartikulation der Jers berücksichtigt. Die altrussischen Kirchensänger wählten freilich einen anderen Weg; die Jers wurden sowohl in starker als auch in schwacher Position vokalisiert (vgl. das unten angeführte Beispiel), sodaß eine künstliche Aussprache entstand, die sogenannte Chomonie (nach den häufig auftretenden Endungen -cho und -mo).
Für die Gesangstexte ergibt sich somit folgende Periodisierung: 11. - 14. Jh.: staroe istinorecie, 14. - Mitte 17. Jh.: razdel'norecie (die gesungenen Texte unterschieden sich von den gesprochenen), 17. Jh. bis zur Gegenwart: novoe istinorecie.
Die Altgläubigen, die mit besonderer Überzeugung an den Traditionen der Moskauer Rus' festhielten, die Mehrstimmigkeit und die Quadratnotation ablehnten und ihre Gesangbücher weiterhin mit der Hand schrieben, bewahrten über Jahrhunderte die altrussischen Kirchengesänge, wie sie vor dem Raskol ausgeführt wurden. Die Bezpopovcy behielten sogar weiterhin den chomonischen Text in ihren Gesangbüchern bei, was mit dem Argument gerechtfertigt wurde, daß sich diese Sprache von der Alltagssprache abhebe (vgl. Hannick, 1988, 51).
Für die Struktur der altrussischen Kirchengesänge ist das Aneinanderreihen von Tropen, die in ihrer melodischen Substanz und in ihrem Aufbau aus bestimmten Semata weitgehend konstant sind, typisch. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts überliefern die Lehrbücher der sematischen Notation das graphische Erscheinungsbild und die slawischen Namen der zahlreichen Melodieformen. Man unterscheidet drei Typen konstanter Melodiefloskeln, popevki, líca und fíty, wobei letztere melismatische Wendungen darstellen, die in verschlüsselter Form im Neumentext wiedergegeben sind.
Die Grundlagen der Erforschung der altrussischen Neumenhandschriften, vor allem derjenigen, die Angaben über die Tonhöhe enthalten (ab dem ersten Viertel des 17. Jh.) wurde von den russischen Musikologen des 19. Jahrunderts, vor allem von V.M. Metallov, D.V. Razumovskij, Z.V. Smolenskij und A.V. Preobrazenskij geschaffen.
Für die Beschäftigung mit Handschriften aus dem Traditionszweig der Altgläubigen, die allesamt diastematisch sind, ist u.a. die Edition "Ein handschriftliches Lehrbuch der altrussischen Neumenschrift" von J. v. Gardner und E. Koschmieder (1963, 1966, 1972) von Bedeutung.
Die folgende Seite aus der Handschrift Cod. slav. 31 (200v) zeigt u. a. die erste Auferstehungsstichire ,"Pervovêc^'nomu ot" ot"ca roz^'s^usja" im zweiten Kirchenton zur großen Vesper am Samstagabend aus dem Buch Oktoechos. Die Handschrift Cod. slav. 31 der BSB München stammt aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, enthält adiastemaische Neumen und einen chomonischen Text. Eine diastematische Version aus einer Handschrift aus der Überlieferung der Altgläubigen (a.d. J. 1856) bringt Sava, 1984, 1, 44f. mit einer Übertragung der Melodien.
Bibliographie in Auswahl
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Gardner, J. v. 1962a: Das Cento-Prinzip der Tropierung und seine Bedeutung für die Entzifferung der altrussischen linienlosen Notationen. In: Musik des Ostens 1, 106-121.
Gardner, J. v. (Hg.) u. Koschmieder, E. (Hg.) 1963, 1966, 1972: Ein handschriftliches Lehrbuch der altrussischen Neumenschrift. 1: Text. II: Kommentar zum Zeichensystem. III: Kommentar zum Tropen- und Schlüsselformen-System. München. (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Neue Folge. H. 57, 62, 68.)
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