Kiever Blätter

Kievskie listki (R), Kiïvski glagolični listki (U), Kiev Folia (E), Kiever Blätter (D), Kiev Missale

Kurzinfo: glagolitisch, M. 10. Jh., Balkan, Sakramentarium, Nationalbibliothek Kiev

Die sog. Kiever Blätter bestehen im Kern aus 7 kleinformatigen Blättern (ca. 10,5 x 14,5cm), die zweiseitig beschreiben sind, also insgesamt 14 Seiten. Es ist dies das allerälteste erhaltene Denkmal in irgendeiner slavischen Sprache und allein deshalb von allergrößter Bedeutung für die slavische Kulturgeschichte.

Der Text enthält Im Hauptteil Bruchstücke eines auf römischem Ritus beruhenden Sakramentariums, dem möglicherweise ein gregorianisches Sakramentarium aus dem 7. Jh. zugrundeliegt. Die Vorderseite des ersten Blattes enthält einen ebenfalls glagolitisch geschriebenen Brief des Apostels Paulus an die Römer; aufgrund des Schriftduktus muß dieser Zusatz jüngeren Datums sein.

Die Tatsache, daß das Sakramentarium dem römischen und nicht dem griechisch-orthodoxen Ritus folgt, läßt darauf schließen, daß die Übersetzung bereits in der kyrillo-methodianischen Periode abgefaßt wurde. Kyrill und Method pflegten bekanntlich ihre Verbindungen zu Rom und arbeiteten in einer Gegend, die bis dato nur unter westlichem kirchlichen Einfluß gestanden hatte.

Aufgrund bestimmter Fehler im Text wird heute allgemein angenommen, daß das überlieferte Denkmal eine Kopie, und nicht etwa ein kyrillo-methodianisches Original, ist. Der äußerst archaische und regelmäßige Stil der Sprache (vor allem im korrekten Gebrauch der Jers und der Nasale) und die zudem noch aussergewöhnlich archaischen glagolitischen Buchstaben weisen jedoch andererseits auf ein hohes Alter hin, so daß die Kiever Blätter wahrscheinlich eine Abschrift sind, die in der Mitte des 10. Jhs. von einem der mährischen Schüler Methods vom Original angefertigt wurden.

Besonders die beiden zweieinhalb Seiten der Kiever Blätter zeigen ganz augenfällig, daß die glagolitische Schrift ursprünglich eine hängende Schrift gewesen ist, also eine Schrift, bei der die Buchstaben nicht auf einer Grundlinie "stehen", sondern von einer Grundlinie nach unten "herabhängen", ähnlich wie indische Schriften.

In der Mitte des 19. Jhs. wurden die Handschrift von Jerusalem nach Kiev in die Bibliothek der Duxovnaja Akademija gebracht. Dort entdeckte sie I.I. Sreznevskij 1874.

Aufgrund ihrer eigentümlichen Sprachmischung sind die Kiever Blätter einzigartig unter den älteren aksl. Denkmälern. Neben den gewohnten altksl.-südslav. Zügen weisen sie ein deutliches westslavisches Merkmal auf (s.u.). Dies hat zu einer Reihe von z.T. willkürlichen Erklärungsversuchen geführt. Typische nicht beweisbare Ad-hoc-Erklärungen sind z.B., daß das Denkmal entweder in einer alten Übergangsmundart zwischen Westslavisch und Bulgarisch oder in einer heute nicht mehr existierenden, auch historisch nicht nachweisbaren südslavischen Mundart verfaßt wurde.

Wahrscheinlich ist vielmehr, daß ein des Aksl. mächtiger Südslave, etwa ein Schüler Kyrills und Methods, den Text in tschechischer Umgebung oder für Tschechen schrieb und in einem Merkmal an deren Sprache anpaßte, oder daß ein Tscheche das Aksl. erlernt hatte und nun, mit Ausnahme eines Zuges, korrekt schrieb.

Der genannte tschechische Zug der Kiever Blätter ist insbesondere die Verwendung von C bzw. SHCH für ksl. SHT und entsprechend von Z für ksl. ZHD. Diese Ersetzung wird konsequent durchgeführt, es ist aber auch die einzige ihrer Art.

Eine farbige Facsimile-Edition enthält als zweiten Teil V.V. Nimčuk: Kiïvs'ki glagolični listki. Najdavniša pam'jatka slov'jans'koï pisemnosti. Kiïv 1983. 141 pp. + Facsimile. Das Facsimile enthält außer den eigentlichen Kiever Blättern neben den Einbandseiten zunächst ein dreiseitiges glagolitsch-kyrillisches Alphabet, ferner auf der vierten Seite eine 7-zeilige kyrillische Passage. Die Druckqualität des Facsimiles ist nicht optimal. Neben einer ausführlichen Einleitung (3--92) und einer Bibliographie bietet die Edition im Anhang als Nachdruck aus der Literatur eine kyrillische Transliteration samt einer lateinischen Entsprechung der gleichen Passagen (104--128) sowie ein Wortverzeichnis (130--140).

Wichtige Sekundärliteratur:

Die Edition von Nimcuk enthält auf den S. 93--102 eine Bibliographie mit 149 Titeln. Ausdrücklich genannt seien: I.A. Sreznevskij • N.N. Durnovo • Van Wijk • Jagic' • Vondrák • Grunskij • C. Mohlberg.

Ein Online-Facsimile des Textes in hoher Qualität ist auf dem Kodeks-Server vorhanden.



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